
Am 17. Januar 2025 feierte das Theater Aachen die Premiere von „Unser Deutschlandmärchen“, einer mitreißenden Inszenierung von Antigone Akgün. Das Stück basiert auf dem autobiografischen Roman von Dinçer Güçyeter, der 2023 mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnet wurde. Akgün und ihre Co-Autorin Sara Gabor haben eine Bühnenfassung geschaffen, die tief in die Thematik der Gastarbeitermilieus in Deutschland eintaucht.
Die Handlung spielt in einer liebevoll nachgebauten Kneipe, die mit Holzvertäfelungen, hellblauen Vorhängen sowie Erinnerungsbildern dekoriert ist. Diese Kulisse reflektiert das Leben der Familie Güçyeter und beleuchtet die Herausforderungen, mit denen Gastarbeiter in Deutschland konfrontiert sind. Die Protagonistin Fatma, gespielt von Bettina Scheuritzel, jongliert zwischen ihrer Arbeit in der Kneipe, auf dem Feld und in der Fabrik, während sie sich um die Schulden der Stammgäste sorgt. Das Stück erzählt von der Hoffnung und den Erwartungen der Einwanderer, aber auch von der harten Realität, die sie antrifft.
Ein vielfältiges Ensemble und eindrucksvolle Musik
Furkan Yaprak verkörpert den Charakter „Dinçer“ und singt das emotionale Lied „Gurbet“ von Özdemir Erdoğan. Ergänzt wird die Aufführung durch eine sorgfältig kuratierte Playlist unter dem Titel „Songs of Gastarbeiter“, die Themen wie Schmerz, Sehnsucht und Rassismus beleuchtet. Die Inszenierung spielt gekonnt mit Heiterkeit und melancholischen, bedrohlichen Tönen. Die komödiantische Darstellung der Charaktere bleibt menschlich und würde ihnen gerecht, ohne sie ins Lächerliche zu ziehen. Petya Alabozova brilliert in der Rolle der strengen, aber liebenswerten Großmutter, während Shehab Fatoum den Vater als windigen Feierer interpretiert.
Besonders eindringlich ist die Thematisierung des Rassismus in Deutschland, die durch die Erwähnung von Brandanschlägen in Mölln und Solingen unterstrichen wird. Diese Aspekte machen das Stück zu einem wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte der Gastarbeiter in Deutschland, die vor über 60 Jahren begann. 1961 wurde das Anwerbeabkommen mit der Türkei unterzeichnet, was den Beginn einer massiven Migration von Arbeitskräften einleitete, die sowohl in Deutschland als auch in der Türkei zahlreiche Lebensgeschichten prägte.
Die Erzählungen eines bereits etablierten Autors
Dinçer Güçyeter selbst ist ein vielfach ausgezeichneter Autor, der die Geschichten seiner Eltern in poetischer Form thematisiert. Seine Werke überschreiten die Grenzen einfacher Berichte und bieten Einblicke in zerrissene Existenzen, die vielen Einheimischen bisher unbekannt waren. Über die Jahrzehnte hinweg blieben viele der ursprünglich als Gastarbeiter angeworbenen Personen in Deutschland ansässig und gerieten in die Fänge von Vorurteilen und Diskriminierung.
Die Inszenierung in Aachen, die mit einer Spielzeit von 1 Stunde und 45 Minuten ohne Pause auskommt, endet symbolisch mit einem hellblauen Schuh. Dieser Schuh steht für den Traum der Mutter, die sich wünscht, die Früchte ihrer harten Arbeit zu genießen. Der gesamte Abend ist ein kraftvolles Plädoyer für Verständnis und Empathie in unserer Gesellschaft und reflektiert den heutigen Zustand der Integration von Migranten in Deutschland.
Die Geschichten, die in „Unser Deutschlandmärchen“ erzählt werden, sind nicht nur Erinnerungen an eine Vergangenheit der Gastarbeit und des Menschenhandels. Sie sind auch ein Spiegel der Gegenwart und eine Aufforderung, die Augen für die Realität der Einwanderer zu öffnen. Diese Realität war über viele Jahre von Unverständnis und Ablehnung geprägt, und der Kontext, in den Güçyeters Erzählungen eingebettet sind, ist entscheidend für ein umfassendes Verständnis der deutschen Geschichte und Gesellschaft.